30
Dez
2007

Mittelbare Erinnerungen (War is over - if you want it)

Weihnachten bei Muttern. Es lief besser als befürchtet. Bei der „Bescherung“ nach dem Abendessen sagte sie mir wieder, dass sie stolz auf mich sei. Es ist natürlich angenehm so etwas zu hören, ja vielleicht auch notwendig. Aber im Grunde frage ich mich, wie sie das nur sagen kann. Ich weiß, dass sie mich so akzeptiert wie ich bin und mich nicht nach Leistungen bewertet, die andere Menschen wichtig nehmen, und das ist eine bewundernswerte Eigenschaft von ihr. Aber ich kann das nicht. Auch wenn dieses Weihnachten – dessen festlicher Rahmen bei uns immer nur ganz bescheiden ausfällt: ohne Baum, ohne Süßigkeiten und natürlich ohne Gesang - nicht die immensen Frustrationen bei mir auslöste, wie in den letzten beiden Jahren zuvor, bleibt doch das Schlechte Gewissen meiner Mutter gegenüber bestehen und der Wunsch ihr mehr zu bieten als diese Abende im Wohnzimmer. Ich kehre ohne Familie bei ihr ein, ohne eine Frau, die ich liebe (oder geliebt habe), ohne Enkel. Ich komme stets mit leeren Händen und hungrigem Bauch. Aber sie scheint an so was gar nicht erst zu denken. Sie ist froh, dass sie mich hat. Und ich kann natürlich froh sein, sie zu haben. Was wird geschehen, wenn sie nicht mehr am Leben ist, wo werde ich dann Weihnachten feiern? Der Status Quo wird nicht ewig halten. Diesmal nahm er sich recht angenehm aus. Ich schenkte ihr den üblichen Katzenkalender, sie mir freundlicherweise erlesenen Tee und eine witzige, nicht ganz meinem Geschmack entsprechende Leselampe, die über einen USB-Stick angetrieben wird. Und wieder einmal Geld (das ich gar nicht wollte, aber natürlich annahm).
Nach dem Abendessen erzählte sie mir amüsante und bewegende Geschichten, über ihre Stellung als jüngste Tochter einer achtköpfigen Familie, das Leben und Sterben meiner Großeltern und meiner Onkel, Anekdoten über meinen Vater usw. - alles Dinge, die lange vor meiner Geburt passierten und mit denen ich mich dennoch intuitiv verbunden fühle; Dinge, die mich mehr anzugehen scheinen und weniger abstrakt daherkommen als die politische Geschichte, mit der ich mich so gerne beschäftige. Ich selbst bin nur noch der isolierte Abkömmling dieser nunmehr verstreuten, aussterbenden Familie (und der einzige mit Abitur) und ich tue nichts für ihren Weiterbestand, ein Gedanke, der mir noch nie so gekommen ist. Ich selbst habe diese Menschen, die für meine Mutter so wichtig waren, gar nicht oder nur kaum gekannt und die wenigen Erfahrungen, die ich mit ihnen gemacht habe, reichen alle vor meinem 15. Lebensjahr zurück! Kaum vorstellbar, dass mein Großvater, der über dreißig Jahre tot ist, mich noch selbst in den Händen hielt, während ich von ihm nur eine Erinnerung habe, die mit einer Photographie zusammenhängt. Eine mittelbare Erinnerung nur. Ich denke an ein altmodisches Farbphoto mit unnatürlichen Kontrasten. Mein Großvater und ich sind darauf zu sehen. Er in der Endphase des Lebens, ich an dessen Anfang, noch unfähig zu sitzen oder gar zu stehen. Es ist als sei dieses Neugeborene, zu dem sich mein Großvater bei seiner schon angegriffenen körperlichen Verfassung (er war pensionierter Grubenarbeiter) herunterbeugt, nicht ich, sondern ein anderes Wesen. Ich habe keinen Bezug zu diesem Moment. Das Photo gibt Zeugnis ab von der Lücke, die durch seinen Tod und mein zu junges Alter aufgerissen wurde. Nur die Erinnerung meiner Mutter ist lebendig. Und sie ist der Überzeugung, dass ich viel von meinem Großvater geerbt habe. Nur Gutes, versteht sich. Wenn es sie und dieses Photo nicht geben würde, käme mir dieser Gedanke einfach nur phantastisch vor.
So war ich also mit diesen sentimentalen und existentiellen Impulsen konfrontiert und ich war dankbar darüber (und bin es immer noch). Als ich am nächsten Tag einen Spaziergang machte, musste ich an die Anekdote denken, in der mein Vater unter recht komischen Umständen meinem Großvater erstmals vorgestellt wurde. Ich lächelte bei der Vorstellung seiner Reaktion. Trotzdem fürchtete ich von ihm gesehen zu werden, als ich an dem Haus, das er mit seiner neuen Familie bezogen hat und das einmal unser Haus gewesen ist, vorbeiging.
Nach dem Essen wurde erst der Fernseher eingeschaltet, weil am Nachmittag meine Mutter das Für und Wider eines frühzeitigen Ausstiegs aus dem Berufsleben vor mir erörtert hatte, was ebenfalls eine gute Sache gewesen war. Der köstliche Wein machte mich schläfrig, aber die Geräusche aus dem Apparat lösten eine nervöse Unruhe bei mir aus, sodass ich mich ins Schlafzimmer zurückzog und in einen von unklaren Träumen bedeckten Schlaf verfiel. Als meine Mutter zu Bett gehen wollte, tauschten wir die Plätze und ich schaute noch eine halbe Stunde lang Hitchcocks „Vögel“, während die scheue Katze auf dem Kopf der Couch lag und mich beobachtete.
Nach einem leckeren Frühstück machte ich den besagten Spaziergang durch die Parkanlage der Stadt, die ich in meiner Jugend als schön und doch langweilig empfunden hatte und lies meine Fehler Revue passieren, machte mir einen Reim daraus wie eins zum anderen gekommen war. Wieder in der Wohnung meiner Mutter sahen wir uns eine leichte Komödie an. Allein oder mit Freunden hätte ich mir das neubürgerliche Fernsehspiel niemals angetan. Jetzt aber staunte über die Ausstrahlung des Hauptdarstellers. Nach dem Abendessen fuhr mich meine Mutter zu meinem Freund F. Wir verabschiedeten uns mit einem Kuss und der gegenseitigen Mahnung auf sich aufzupassen. Ich bin gespannt, wie sie sich entschieden hat. Ich hoffe nur, ihr eines Tages mehr geben zu können als einen zufriedenen Esser und Zuhörer.

Bei F ist nun seine chinesische Freundin eingezogen. Sie werden wohl bald heiraten. J ist eine sympathische, fröhliche junge Frau mit einem, wie soll ich sagen, mädchenhaften Charme. Sie hat ein breites Lächeln, das sie dazu zwingt die Augen zusammenzukneifen, wie diese japanische Mangafiguren; sie spricht ein gutes, aber natürlich leicht eigentümliches Deutsch und kichert gerne bei Fs Erzählungen. Obwohl ihr Glück momentan ziemlich sichtbar ist, wird F nicht müde, ihr durchsetzungsfähiges Wesen zu beklagen. Ich habe davon nicht viel bemerkt, sondern dankbar festgestellt, dass auch sie für warmes Essen sorgte. Wir haben an dem Abend viel gelacht. Wir sahen uns über 650 Photos an, die die beiden während ihres Aufenthaltes in Shanghai gemacht haben. Immer wieder betätigte F den Vergrößerungsmodus, mit dessen Hilfe wir zu den Details des aufwühlenden Stadtlebens der Metropole hinabtauchen konnten. Die Photoschau wurde ergänzt mit witzigen und spannenden Geschichten, vor allem über Js Familie. Ihre Eltern scheinen sehr nette Menschen zu sein, wie ich wehmütig feststellen durfte; sie strahlen dasselbe aufgeschlossene und fröhliche Wesen aus wie ihre Tochter. Besonders beeindruckt hat mich – neben vielen anderen Dingen – das Bankett, das zu Ehren von Js Geburtstag arrangiert wurde. Um die reichlich gedeckte kreisrunde Tafel saßen von den Speisen und dem Alkohol beseelte Menschen, ein für mich paradiesischer Zustand. F war vor allem mit der Einhaltung der chinesischen Tischsitten beschäftigt gewesen, was man an den zahlreichen Photos erkennen konnte, auf denen er mit den Verwandten anstieß (wobei es wichtig war, dass er das Glas immer unter das seines Gegenübers hielt, was zu komischen Unterbietungswettbewerben führte).
Letztendlich habe ich Fs Reise mit Vergnügen nachemempfunden. Einiger seiner Geschichten werde ich nicht vergessen. Und wieder stelle ich das bewegte Leben der beiden dem meinigen gegenüber. Es ist schon eindeutig, dass fast alle Fortschritte gemacht haben, außer ich. Das gilt nicht zuletzt für meine Mutter. Aber ich kann mich für sie mit freuen. Mehr bleibt mir momentan auch nicht übrig. Weihnachten ist eine Zeit, wo ich Bilanz ziehe. Sie fällt sehr, sehr lau aus, aber nicht katastrophal. „Auch du wirst einmal mit einer Frau zusammenziehen“, sagte F, als er mir darlegen wollte, womit man dann zu rechnen habe. Ich werde an seine Worte denken. So oder so.
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