Ich lebe in einer Karnevalshochburg und liege allein auf dem Sofa meiner Wohnung, abgeschnitten von den feiernden Massen, unfähig und unwillig mich mit ihnen zu vermischen. Zweimal ziehen trommelschwere Marschmusikanten durch die Dunkelheit wie die Orchesterbrigade triumphierender Besatzungstruppen. Dabei bin ich der Fremdling und traue mich deshalb nicht nach draußen. Ich weiß, die Chance auf Geschlechtsverkehr ist so hoch wie nie, aber ich kann mich nicht aufraffen. Der Tribut, den mein Körper an die Spätschicht zahlen muss, gepaart mit der Ungewissheit, was da draußen wirklich vorzufinden ist, macht mich hoffnungslos passiv. Ich spürte es schon am Morgen nach dem Aufstehen. Ich schaffte es gerade mal, meine Wäsche in den Salon zu bringen, sie wieder abzuholen und dann auf dem Ständer aufzuhängen, wo sie von der Heizungsluft getrocknet wird. Es ist nicht mal vier Uhr Nachmittags, da greife ich nach der Literflasche Whisky, neugierig auf den Geschmack der mir unbekannten Marke. Bei Whisky kann ich den Grad an Betrunkenheit sehr gut regulieren, aber die Müdigkeit ist überwältigend. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich schon wieder den Karneval verpasse, erstmals scheint mein Widerwille dagegen nicht mehr so groß wie meine Neugier. Mir bereitet meine von der Arbeit herrührende Erschöpfung Sorgen, denn ich muss lernen, mich zu überwinden und öfter in die Stadt zu gehen.
Ich denke an die letzten zwei Arbeitsstunden (während derer im Fernsehen die rekonstruierte Fassung von Metropolis lief). Die brennende Säure in meinem Magen macht mich reizbar und zermürbt mich. Das alkoholfreie Bier vom Vortag ist wie eine Brandbombe eingeschlagen. Ich kommissioniere Karosserieteile in die hohen schmalen Behälter, die sogenannten RC. Die Arbeit ist nur noch anstrengend und nervig, dennoch versuche ich, obwohl es niemandem auffallen wird, den besonders mühevollen Teil der Order abzuschließen, was meinem Nachfolger zugute kommen wird. Ich weiß selbst nicht, warum ich das tue, auf der Arbeit werde ich immer etwas masochistisch. Im vorletzten Gang stehen Frank und Decker mit ihren Maschinen. Frank ist ein junger Bursche mit schlesischem Hintergrund. Breitschultrig, mit kurzen Haaren und rosigen Wangen. Er hat einen demütigenden Humor, den er manchmal mit aggressiven Gesten unterstreicht, will aber von mir gemocht werden, was mir schmeichelt. Decker ist ein agiler Haudegen, drahtig, lärmend, oftmals sehr gut aufgelegt. Er hat einen unverkennbaren blonden Schnäuzer, dessen Spitzen wie Flügel in die Höhe schießen, aber dafür kaum noch Haare auf dem Kopf. Er ist so etwas wie der Hofnarr unseres Teams, der Meister quittiert seine störenden Zwischenrufe meist nur mit einem Lachen, die jungen Leute scharen sich um ihn und selbst die türkischen Kollegen lächeln bei seinen Tiraden, obwohl sie wissen, dass er Türken verachtet. Ich bin der einzige, der ihm beim Vornamen nennt. Ich komme ihnen immer näher. Ich sehe wie sie am Kopf von Deckers Maschine etwas begutachten, wahrscheinlich sein Handy oder einer der 70er-Jahre-Pornos, mit denen er Handel treibt. Sie tun mir nicht den Gefallen und verschwinden. Ich weiß, sie werden mich wieder ein bisschen ärgern wollen. Decker ruft mich beim Nachnamen, wie er es bei fast jedem tut, dann stehen sie zu zweit breitbeinig vor mir und schauen mir beim Arbeiten zu. Ich tue so als bemerkte ich sie nicht. Ich pflücke mattschwarze Kotflügel aus den Behältern, kämpfe mit den Streifen aus Flexpappe, Rascheln und blechernes Scheppern begleiten meine schwerfälligen Handgriffe. Decker lässt nicht locker. Er sagt, ich solle mal zu ihm kommen, er habe da was für mich. Aber mir ist nicht nach Albernheiten, ich will fertig werden und überhaupt meine Ruhe haben. Frank tönt, Decker habe in seiner Tasche Lippenstift für mich und fügt noch irgendwas Anzüglich-Schwules hinzu und stößt wieder sein quirlig-dreckiges Lachen aus . Ich mache ein Gesicht wie Charlie Brown und gehe nicht darauf ein. Doch während ich mein Gesicht in den RC vergrabe, ist mir, als müsste ich schreien oder tatsächlich heulen und das Schweigen hält einfach nur die Mitte zwischen den beiden Extremen. Ich muss die Ruhe bewahren. Decker verunsichert meine eiserne Haltung: „Meinste der gibt mal 'ne Antwort?“ Was soll ich auf den Schwachsinn auch groß antworten? Sie gucken mich nur noch ratlos an. Decker fragt mich, ob ich weiter müsse, ich schaue auf das Terminal und sage sachlich Ja. Frank sagt: „Alles klar, hinten rumfahren!“, aber Decker sagt: „Nein, lass den Jung seine Arbeit machen“ und sie ziehen endlich ab. Erleichtert denke ich, solange die Waffe Schweigen funktioniert, respektieren sie mich.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich fühle mich wie lebendig begraben. Begraben in Licht, denn mein Zimmer ist hell erleuchtet. Meine Hose zwickt in meinen Hoden selbst beim Liegen, aber ich werde mich nicht umziehen. Während Christian Brückner aus dem Medicus vorliest, fallen mir immer wieder die Augen zu. Es wird sieben, acht, neun Uhr, ich will den Schlaf noch hinauszögern. Ich kann doch Samstags abends nicht um sieben Uhr einpennen. Ich schlürfe Whisky, trinke Wasser. Ich rauche Zigaretten und Gras. Nichts davon bereitet mir Freude. Ich vermisse meine Spielkonsole, die ich einem Freund gab. Es ist wie beim Entzug. Ich kann nichts lesen, auch keinen Film gucken. Gras macht mich unkonzentriert, aber vielleicht ist es auch nur das Nikotin. Als Brückners Stimme verstummt, denke ich an den Fall Hegemann, den ich ausgiebig verfolgt habe. Ich bin entsetzt darüber, dass so ein Machwerk so weit kommen konnte, darüber, was für erbärmliche Figuren die „Kulturszene“ beherrschen. Die gesamte Elite diskreditiert sich selbst. Das einzig Tröstliche ist die nahezu einhellige Ablehnung durch das interessierte Publikum, das sich in den entsprechenden Foren artikuliert. Völlig resigniert denke ich, dass ein Mensch wie ich bei solchen Verhältnissen gar keine Chance haben kann. Aber ich weiß auch, dass mir sowieso nichts einfällt und ich auf Maiks Ideen angewiesen bin. Kehlmanns Erfolge schüchtern mich ein, obwohl ich noch nie was von ihm gelesen habe. Die Bilanz meines Lebens und die zukünftigen Aussichten sind beklemmend. Ich muss endlich aus dieser viel zu kleinen Wohnung raus, ich bin schon der älteste Veteran im Haus. Seitdem ich ein Auto habe, finde ich auch meinen Lohn nicht mehr so beeindruckend. Ich kalkuliere die Zahlen und bin nicht zufrieden. Ich kalkuliere die Bedeutung von Mayas Anruf und kann noch weniger zufrieden sein. Was ist, wenn der ganze Kampf wieder von vorne losgeht? Und wie lange soll ich diese Arbeit eigentlich noch machen? Was will ich überhaupt? Was soll ich tun? Wie kann ich Besserung erlangen, wenn ich mich nicht mal auf die Straße traue? Als ich das Licht ausmache, wechseln sich in meiner Phantasie Maya und das bezahlte Mädchen einander ab. Am nächsten Morgen habe ich immer noch Sodbrennen.
Katev - 15. Feb, 18:28